News aus den Finanzmärkten

Inflation, Stagnation oder beides zusammen?

Dr. Thomas Gitzel · Harald Brandl
Lesedauer: 9 Min
Inflation bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Stagnation ist ein seltenes Phänomen. Die Stagnation in den 1970er Jahren bezog sich auf den Arbeitsmarkt und nicht auf das Wirtschaftswachstum. Der Vergleich zur aktuellen Situation hinkt: Derzeit wachsen Rezessionsrisiken bei gleichzeitig hoher Inflation. Wir zeigen, wie sich Anleger positionieren sollten.

Mit Blick auf die nahe Zukunft ist häufig von Stagflation die Rede. Das hiesse, die Wirtschaft würde kaum mehr wachsen bei gleichzeitig erhöhter Inflation. Als Beispiel dient dabei die Entwicklung in den 1970er und frühen 1980er Jahren. Die damalige Situation kann zwar nur bedingt auf die aktuelle Lage übertragen werden. Doch lohnt sich der Blick in die Vergangenheit, um daraus Erkenntnisse für die aktuelle Situation zu ziehen.

Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass damals die Wachstumsraten starken Schwankungen unterlagen. In den USA war eine Boom-Bust-Phase zu beobachten: Im Anschluss an den ersten Ölpreisschock im Herbst 1973 kam es zu einem massiven Einbruch der US-Wirtschaft, aber schon in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre wurden wieder Wachstumsraten von über 6 % beim Bruttoinlandprodukt (BIP) verzeichnet. Anfang der 1980er Jahre brach die Wirtschaft erneut in kurzer Folge zwei Mal ein. Die eigentliche Stagnation betraf den Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenquote lag in den USA zwischen 1974 und 1985 bei durchschnittlich 7.3 %.

Die wirtschaftliche Entwicklung wurde massgeblich von den geldpolitischen Entscheidungen der US-Notenbank geprägt. Nach dem ersten Ölpreisschock reagierte die Fed unter dem damaligen Präsidenten Arthur Burns zu lax. Ende der 1970er Jahre musste dann dessen Nachfolger, Paul Volcker, das geldpolitische Ruder umso deutlicher herumreissen, was in Kombination mit dem zweiten Ölpreisschock schliesslich in der Doppelrezession 1980 und 1982 mündete. Besser fuhren zum damaligen Zeitpunkt die Deutsche Bundesbank und die Schweizerische Nationalbank, die nach dem ersten Ölpreisschock der Inflationsbekämpfung eine höhere Priorität zuordneten.

Rezessionsgefahren

Die Ausgangssituation ist heute eine andere. Die Weltwirtschaft leidet immer noch unter den Folgen der Corona-Pandemie. Nicht funktionierende Lieferketten belasten die Industrieproduktion. Wegen des Kriegs in der Ukraine kommen erschwerend höhere Energiepreise hinzu. Die Ölpreise haben sich binnen Jahresfrist verdoppelt, am europäischen Gasmarkt sind die Preise auf zuvor nie gekannte Höhen angestiegen. Am wichtigen niederländischen Markt haben sich die Gaspreise gegenüber dem ansonsten recht trägen Niveau der vergangenen Jahre rund versiebenfacht.

Die Fed hat aus den Fehlern der 1970er Jahre gelernt und strafft die Geldpolitik zügig. Im laufenden Jahr sind neben der im März erfolgten Zinserhöhung um 25 Basispunkte weitere sieben Zinsschritte zu erwarten. Gleichzeitig wird in den kommenden Monaten mit der Reduktion der Bilanzsumme begonnen. Der Liquiditätsentzug wird im laufenden Jahr beachtlich sein. Auch die Europäische Zentralbank (EZB) möchte bis zum Ende des dritten Quartals ihre Wertpapierkäufe einstellen. Danach könnten ebenfalls Zinserhöhungen erfolgen.

Die wirtschaftliche Situation hat sich also mit Ausbruch des Krieges und dem dadurch ausgelösten weiteren Energiepreisanstieg deutlich verändert. In Europa sind die Rezessionsrisiken mittlerweile hoch. Wichtige Konjunkturvorlaufindikatoren sind eingebrochen. Die industrielastige europäische Wirtschaft leidet unter einem Ölpreis, der in Euro gerechnet auf Allzeithoch notiert. Zusätzlich hat sich die Lieferkettenproblematik nochmals verschärft, denn die Ukraine ist integraler Lieferkettenbestandteil der Automobilwirtschaft. Da gleichzeitig die Omikron-Variante des Corona-Virus zu Lockdowns in China führt, fehlen auch wichtige Vorprodukte aus Fernost. In den USA sieht die Situation noch etwas besser aus. Die aus eigenen Ressourcen stammende Öl- und Gasversorgung und die nur sehr geringe wirtschaftliche Abhängigkeit vom Osten Europas mildert die wirtschaftlichen Folgen des Kriegs.

ifo-Geschäftserwartungen für das verarbeitende Gewerbe und BIP
ifo-Geschäftserwartungen für das verarbeitende Gewerbe und BIP
Hohe Energiepreise mit Folgewirkung 

Nichtsdestotrotz nehmen die Rezessionsrisiken auch in den USA zu, hier allerdings wegen des Vorgehens der Fed. Wenn also gegenwärtig von Stagflation die Rede ist, liegt unser Augenmerk auf dem zweiten Teil des Wortes, der Inflation. Denn die Teuerungsraten werden aufgrund der deutlich gestiegenen Energiepreise kurzfristig auf hohem Niveau bleiben. In den Frühjahrs- und Sommermonaten sollte sich dank Basiseffekten eine gewisse Entspannung einstellen. Unternehmen und Dienstleister beginnen jedoch, höhere Kosten an Kunden und Konsumenten weiterzugeben. Der Preisauftrieb gewinnt dadurch an Breite und damit auch an Hartnäckigkeit. Das aggressive Vorgehen der US-Notenbank macht klar, dass mittel- bis längerfristig keine Inflationsraten geduldet werden, die über dem Zielband von 2 % liegen. Seit 1950 folgte auf 10 von 13 Zinserhöhungszyklen eine Rezession. Eine wirtschaftliche Kontraktion dämpft die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und reduziert die Inflationsraten. Dieses Mal rechnen wir mit einem ähnlichen Muster. Auch in Europa dürfte die EZB im Zweifelsfall klar zur Inflationsbekämpfung tendieren.

Darüber hinaus gilt: Aus realwirtschaftlicher Perspektive werden die Inflationsraten in den kommenden Jahren nur schwer zu dem vor der Pandemie lange Zeit beobachteten Niveau von rund 1 % zurückkehren. Die Gründe dafür sind die forcierte Ablösung fossiler Brennstoffe mit erneuerbaren Energien, was zu höheren Kosten und Deglobalisierungstendenzen führt, um die Abhängigkeit von einzelnen Ländern in den Lieferketten zu reduzieren.

Märkte suchen Orientierung

Was in der Wirtschaft passiert, wird an der Börse gespiegelt. Kurzfristig heissen die Themen Energie und Russland. Doch die Anleger fürchten einen weitaus bedeutenderen strategischen Veränderungsprozess internationaler Handelsbeziehungen und damit einhergehende mittel- bis längerfristige Kosten.

Für Anleger sind Phasen erhöhter Inflation herausfordernd. Der Blick auf die nominale Entwicklung zeichnet gerade in Perioden hoher Teuerung ein trügerisches Bild. In Phasen rückläufigen Wachstums und hoher Inflation ist es schwierig, die Kaufkraft des Vermögens zu erhalten. Das zeigen Daten zu realen Renditen: Für den US-Aktienmarkt lag der reale, das heisst um die Inflation bereinigte, durchschnittliche Ertrag in solchen Phasen gemäss einer Berechnung des Fondshauses Schroders bei –1.5 % pro Jahr. Value-Aktien schlugen sich dabei besser als Wachstumsaktien. US-Staatsanleihen konnten zwar mit 0.6 % p.a. ihren realen Wert behalten, doch dies ist angesichts der aktuell tiefen Renditen für die heutige Zeit nicht repräsentativ. Top Qualitäten bei Unternehmensanleihen sowie Staatstitel sind im Anleihensegment zu bevorzugen. Inflationsgeschützte Anleihen verzeichnen Gewinne, wenn die tatsächliche Teuerung, über der zum Kaufzeitpunkt erwarteten Inflation liegt. Immobilienaktien (REITS), Rohstoffe, und hier besonders Gold, konnten deutliche Kursgewinne verbuchen.

Durchschnittliche reale (inflationsbereinigte) Rendite im Jahresvergleich, %
Durchschnittliche reale (inflationsbereinigte) Rendite im Jahresvergleich, %
Inflationssorgen bei Anleihen

Für Anleger, die reale Renditen erzielen wollen, ist die Inflation das grössere Risiko. Momentan ist die US-Noten-bank Fed fest entschlossen, die Zinsen zu erhöhen. Am kurzen Ende der Zinskurve führt dies zu höheren Renditen. Gleichzeitig reduziert das entschlossene Vorgehen der Fed den Aufwärtsdruck bei den Renditen längerer Laufzeiten. Grosse Kursverluste im Anleihensegment aufgrund steigender Renditen dürften somit zwar ausbleiben, doch verharren die Realrenditen bei erhöhter Inflation im negativen Bereich. Die aus inflationsgeschützten Anleihen abgeleitete erwartete durchschnittliche Teuerung der kommenden fünf Jahre ist sprunghaft angestiegen und liegt mittlerweile bei 3.7 % (USA) bzw. 2.9 % (Deutschland).

Deshalb sind wir bei Staatsanleihen weiterhin deutlich untergewichtet. Insurance-linked Securities oder auch Mikrofinanz-Investments weisen eine geringe Zinsabhängigkeit auf und profitieren von den gestiegenen kurzfristigen Zinsen. Trotz der erhöhten Stagflationsrisiken sollten Anleger sich nicht einseitig positionieren. Gold bleibt etwa ein wichtiger Portfolio-Stabilisator.

Auch nicht zu viel für Aktien

Die erhöhte Teuerung belastet ebenfalls die Aktienmärkte, da Perioden erhöhter Konsumentenpreisinflation von über 4 % mit tieferen Kurs-Gewinn-Bewertungen einhergehen. Allerdings beruht dieses historische Muster auf dem engen Zusammenhang zwischen Inflation und Renditen. Höhere Zinsen schmälern den heutigen Wert zukünftiger Gewinne, da diese stärker abdiskontiert werden. Ein höheres Renditeniveau macht Anleihen attraktiver und lässt Anleger aus dem Aktienmarkt umschichten, was die Börsen belastet. Aktuell sind die US-Inflations-erwartungen jedoch für die kommenden Jahre so hoch wie noch nie seit dem Beginn der Messung vor 20 Jahren. Die US-Renditen sind zwar zuletzt angestiegen, doch notieren sie gerade mal auf Vor-Pandemie-Niveau und die reale Verzinsung liegt im negativen Bereich. Das heisst, es ist derzeit für Anleger wenig attraktiv, sich von Aktien zu verabschieden und in Anleihen zu investieren.

Aktienmarktbewertung und Inflation (USA)
Marktbewertung und Inflation (USA)

Der Ausblick für die Aktienmärkte ist zweigeteilt. Kurzfristig überwiegen emotionale Marktreaktionen in beide Richtungen. Der mittel- bis langfristige Ausblick wird bestimmt durch den ausgelösten Veränderungsprozess der internationalen Wertschöpfungskette sowie der weiteren Entwicklung der Anleiherenditen. Geografisch sind die Auswirkungen unterschiedlich: Während Europa stärkere Herausforderungen auf der Kostenseite zu lösen haben wird, sind es in den USA die Renditeentwicklung und deren Einfluss auf die immer noch hohen fundamentalen Bewertungen des Marktes.

Das Bild für die einzelnen Industriesektoren sieht für Aktien und Unternehmensanleihen wie folgt aus:

Energiesektor: Hohe Gas- und Rohölpreise sorgen für höhere operativen Geldflüsse. Die Verschiebung von Nachfrageströmen schafft zusätzliches Umsatzpotenzial, vor allem für Unternehmen mit freien Kapazitäten.

Basismaterialien: Rohstoffpreise für Industriemetalle, aber auch Mineralstoffe, werden auf hohem Niveau verharren. Lieferumstellungen und temporäre Knappheiten führen zu positiven Sondereffekten. Diesen stehen mittel- bis langfristig erhöhte Risiken aus abbau- und produktionsbedingten Umweltbelastungen entgegen.

Automotive: Weltweit hat die Automobilbranche mit Lieferproblemen seitens der Halbleiterindustrie zu kämpfen. Während die Unternehmen diese Situation relativ gut im Griff haben, löst nun der Mangel an Palladium (erforderlich für Katalysatoren) und der Produktionsausfall von Halbfertigprodukten (u.a. wegen fehlender Kabelbäume) zusätzlich Gegenwind aus. In Europa werden die Titel der Branche bereits zu historisch niedrigen fundamentalen Bewertungen gehandelt. Bewertungsrisiken bestehen vor allem bei Unternehmen in den USA und Asien.

Industrie: Das verarbeitende Gewerbe leidet vor allem unter den gestiegenen Energiepreisen, die Produktion und Logistik schwer belasten. Dem gegenüber stehen hohe Auftragsvolumina aufgrund der ökologischen Transformation. Die zusätzlich höher zu erwartenden Verteidigungsausgaben können vor allem im Maschinenbau eine Sonderkonjunktur auslösen.

Banken: Der Angriffskrieg von Russland trifft auch Unternehmen, die gerade einmal die Pandemie überstanden haben. Die nun zusätzlichen Belastungen führen zu finanziellem Stress und erhöhen dabei die Gefahr steigender Kreditausfälle. Zusätzlich neigen Bankwerte in Phasen einer abflachenden Renditekurve zur Konsolidierung. Der Ausblick für Banken ist somit für das erste Halbjahr 2022 als neutral bis leicht negativ einzuschätzen.

Gesundheitswesen: Oft haben Unternehmen aus dem Pharma- und Gesundheitswesen eine Preisdurchsetzungskraft und sollten sich zumindest relativ besser als der Gesamtmarkt entwickeln können. In Europa sind dabei viele Pharmaunternehmen attraktiv bewertet.

Solche Marktphasen können auf Stufe der Einzelinvestitionen ein attraktives Umfeld für mittel- bis langfristige Anleger bieten. Während wir vorerst eine zurückhaltende Positionierung mit einem Untergewicht der Aktienquote verfolgen, empfehlen wir bei der Einzeltitelauswahl auf solche Unternehmen zu achten, die über eine starke Marktstellung und eine hohe Preissetzungsmacht verfügen. Die Verschuldung sollte im Verhältnis der zu erzielenden operativen Erträge überschaubar sein, so dass Zinserhöhungen das Nettoergebnis nicht strapazieren.

Diese Unternehmen können höhere Inputkosten besser weitergeben und sollten am ehesten in der Lage sein, ihre Gewinnspanne trotz sinkender Umsatzwachstumsraten und steigender operativer Aufwände zu halten. Unternehmen mit starker Marktstellung, einem Alleinstellungsmerkmal oder mit einer relativ unelastischen Nachfrage haben in der Regel eine höhere Stabilität in einem inflationären Umfeld.

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